Aufklärung über Krankenmorde

„Verlegt in eine andere Anstalt“

Dem Mordprogramm im Rahmen der sogenannten „Rassehygiene“ der Nationalsozialisten unter dem Decknamen T4 (für Tiergartenstr. 4, wo die Berliner Verwaltungszentrale war) oder „Euthanasie“ fielen zwischen 1939 und 1945 ca. 300 000 Menschen zum Opfer, Frauen, Männer, Kinder aller Altersstufen. Kriterium der Selektion wurde der vermeintliche „Wert“ der Menschen, gemessen an ihrer Arbeitsfähigkeit. Das Programm startete offiziell am 1. September 1939, wurde nach Protesten 1940 teilweise eingestellt und durch verdeckte Aktionen, wie Medikation und Verhungern-lassen weitergeführt. Davon waren vor allem Kinder betroffen.

Der erste Weg unserer Recherche  führte  2014 in die Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, wo mind.  43 Frauen und 17 Männern zwischen 26 und  80 Jahren aus Jena ermordet wurden. Im Bundesarchiv Berlin fanden wir einige ihrer Krankenakten.  Der Weg in den Tod begann meist mit einer Einweisung aus Jena in eine der beiden Krankenanstalten in Stadtroda oder Blankenhain. Von dort wurden sie mit dem Vermerk „Verlegt in eine andere Anstalt“ in die Zwischenstation Zschadraß gebracht, bevor sie in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein oft noch am Tag ihrer Ankunft vergast wurden, die meisten im Herbst 1940, einige im Jahr 1941. Die Angehörigen erhielten sogenannte Trostbriefe, wo eine fingierte Todesursache genannt wurde, und auf Anforderung Asche der Verstorbenen, die in anderem Falle auf den Hang hinter der Anstalt gekippt wurde.

Hier sei stellvertretend für alle das Schicksal von Johannes Reich dargestellt:

Johannes Reich, geb.  am 17. 11. 1894, lebte in der Otto-Schott-Straße 44.

Als Kind war er sehr klein, war fleißig in der Schule und lernte sehr gut, fiel aber auch als „sonderbar“ auf. Nach einem Armbruch mit 13 Jahren wurde er nicht versetzt, doch lernte er zusätzlich Französisch. Später erlernte er das Gärtnerhandwerk, arbeitete zunächst im Botanischen Garten, dann in der Parkverwaltung in Charlottenburg (heute in Berlin) und ging auf Wanderschaft nach Ostpreußen, Düsseldorf, Köln und Bremen, wo er 1916 an Streiks teilnahm. Zurück in Jena hatte er verschiedene Stellungen als Gärtner, zuletzt bei der Jenaer Friedhofsverwaltung, wo er jedoch wegen Nachlässigkeiten entlassen wurde. An die Gemeinderäte schrieb er daraufhin beleidigende Briefe über den Friedhofsinspektor, den ersten im April 1917. Dieser Streit zog sich wohl bis 1920 hin. Er trat, verwirrt wirkend, im Rathaus auf und wurde im März 1921 in die, wie es heißt, 'Irrenanstalt' in Jena aufgenommen. Drei Monate später kam er ins Carl-Friedrich-Hospital in Blankenhain, wo ihn seine Mutter besuchte. Seine Krankenakte bricht 1926 ab. Er ist 31 Jahre alt. Es folgt nur noch der Eintrag: „Verlegt nach Zschadraß am 23. September 1940“. Zwei Monate später, am 27. November 1940, wird Johannes Reich in Pirna-Sonnenstein umgebracht. Er ist 46 Jahre alt.

Gedenken in Jena

  • 2015 hält Dr. Boris Böhm aus der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein einen Vortrag im Stadtmuseum der AK berichtet über die Jenaer Opfer; zusätzlich eine Erkundungsfahrt nach Pirna.
  • 2017 beteiligt sich der Arbeitskreis am Programm zur Wanderausstellung „erfasst, verfolgt, vernichtet“ der DGPPN*  im Stadtmuseum und im Universitätsklinikum.* (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde)
  • 2019 wird am 1. September auf  Initiative des AK in der Vorhalle des historischen Rathauses eine Gedenktafel für 60 namentlich bekannte  Opfer des NS-Mordprogramms aus Jena eingeweiht. In diesem Rahmen findet auch eine Tagesfahrt nach Zschadraß statt.
  • 2021 werden Stolpersteine für Luise Eismann, Meta Langstroff und Kurt Hanitzsch verlegt.
  • 2023 werden Stolpersteine für sieben Kinder in der Kochstraße vor der ehemaligen Universitätskinderklinik verlegt. Von dort wurden sie nach Stadtroda in die Kinderfachabteilung gebracht und dort ermordet.

Ausstellungsprojekt „erfasst – verfolgt – vernichtet“ - Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus – Begleitausstellung zu den Jenaer Bezügen und Begleitprogramm und Enthüllung einer Gedenktafel am Alten Rathaus mit 60 Namen aus Jena, die dem Mordprogramm zum Opfer gefallen sind.

Auf Anregung unseres Arbeitskreises wurde an der Universität Jena die Wanderausstellung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) vom 24.11. bis 21.12. 2017 gezeigt. Eine in Zusammenarbeit mit Historikern entstandene Begleitausstellung im Stadtmuseum zeigte die Leidenswege von mehreren Menschen aus Jena während der medizinischen Vernichtungspolitik der Nazis sowie die Beteiligung Jenaer Ärzte an diesen Verbrechen. Ein Begleitprogramm bot 4 Fachvorträge, eine Filmvorführung („Nebel im August“) sowie zahlreiche Führungen durch 6 Studierende des Fachs Zeitgeschichte an, bes. für Jenaer Schulen. Mehr als 2000 Menschen haben die Ausstellung besucht. - Die Eröffnung während der „Langen Nacht der Wissenschaften“ im Universitätsklinikum sowie die Schirmherrschaft des FSU-Präsidenten zeigte den hohen Anspruch des Projekts und die öffentliche Anerkennung unseres Engagements.

Das Projekt fand im Spätsommer 2019 seine Fortsetzung mit der Enthüllung einer Gedenktafel am Alten Rathaus durch den Jenaer Oberbürgermeister mit den Namen von 60 ermordeten Menschen aus Jena, im Rahmen einer thematisch gestalteten Matinée und großer Anteilnahme der Bevölkerung. Eine Woche vorher fand eine thematische Tagesfahrt nach Stadtroda und Zschadraß statt, für die Opfer aus Jena die damaligen Zwischenanstalt vor der Ermordung in Pirna-Sonnenstein.

Es war dies – auch mit dem Anteil eigener Erforschung der Jenaer Opferschicksale - das bisher aufwändigste Projekt in unserer 12-jährigen Arbeit.